Kindheit im Dritten Reich und Jugend im Arbeiter- und Bauernstaat DDR

Hier folgen zwei Leseproben aus dem 1. und 4. Kapitel des Buches "Was für Zeiten"

 

 

Leseprobe aus Kapitel 1 Eierpampe in Rhabarberblättern“

 (zum Abdruck durch die Presse freigegeben)

 

Günter Nicke: Was für Zeiten!

Books on Demand. Norderstedt 2007.

ISBN 978-3-8370-1112-8.

  

 

Gegenüber der Kalksteintreppe war ein Törchen, das auf den Seesteg hinaus führte. Links vom Steg  befand sich die Badestelle der Familie, rechts, im spitzen Winkel zum Steg, umklammert vom Schilfrohr, lag der Ruderkahn, ein familiengerechtes Wassergefährt, befestigt mit zwei Karabinerhaken, die über zwei Zugfedern mit dem Ende des Stegs auf der einen und dem Bollwerk auf der anderen Seite verbunden waren.

Es waren Höhepunkte im Leben des Kleinen, wenn sein Vater mit ihm auf den See hinaus ruderte. Nachdem die Bootsplane abgenommen und die Eisenbügel, die die Plane zeltartig über das Boot gespannt hatten, an Land sicher aufbewahrt worden waren, griff der Vater zu einem der Ruderriemen und stakte den Kahn rückwärts durch das Schilf hinaus auf den See. Zuerst hörte man nur das hell-schrille Blattrauschen des Schilfröhrichts, wie es am Bootskörper entlang schliff, dann plötzlich eine Stille, die nur vom Wasserglucksen am Heck zart umspielt wurde, und das Boot glitt mehr, als es schwamm, rückwärts hinaus auf den See. Der Vater nahm seinen Platz auf der Ruderbank ein - der Junge hatte von Anfang an schon hinten gesessen, an die mit Holz eingefasste schmiedeeiserne Rückenlehne gelehnt - legte die Ruder in die Dollen und brachte sie so mit einigen zuerst kräftigeren Schlägen in Vorwärtsrichtung in Fahrt.

Meist hatten sie ein Ziel, da etwas zu besorgen war. So wurde zum Beispiel die gegenüber am Seeufer liegende Gärtnerei, die von einem aus Holland stammenden Gärtner betrieben wurde, angesteuert, weil die Mutter irgendwelche Gemüse brauchte, oder weil Blumen im Garten ersetzt werden sollten. Manchmal musste Milch, ein anderes Mal Bier geholt werden - damals noch in Siphons, die direkt im Restaurant Peters aus dem Hahn bezapft wurden. Vieles konnte mit dem Kahn erledigt werden; dieses Transportmittel stand den Zufuß- oder Fahrradbesorgungen in dem kleinen, östlich von Berlin gelegenen Luftkurort in nichts nach.

Ein anderes Bild tritt dem Zurückblickenden vor Augen, und er fühlt dabei, wie sehr der See, an dem sein Elternhaus lag, mit seinem frühen Leben - aber halt, eigentlich ja immer - verbunden war. Und das nicht nur in dieser Episode, sondern als lebenslange Spiegelung, die sich bis heute mit 70 Jahren in seiner Seele heimisch gemacht hat.

Zu dieser Zeit um 1938 hielten die Mütter ihre kleinen Kinder noch zum regelmäßigen Mittagsschlaf an. Ob sie wollten oder nicht, ob die erzwungene Unterbrechung des Tageslaufs erfolgreich war oder nicht, das Kind hatte sich hinzulegen. So auch an diesem Sommertag, von dem hier die Rede ist. Der Kleine lag auf dem Sofa im sogenannten Herrenzimmer, das aber eigentlich das Wohnzimmer war. Herrenzimmer hieß es wohl deswegen, weil vor den nach Süden weisenden Fenstern der väterliche Schreibtisch stand. Auf der Wohnetage im Hochparterre gab es dann noch das Esszimmer, das zu dieser Zeit aber nur an Feiertagen oder für besonders geladene Gäste - was eigentlich selten vorkam - benutzt wurde. Dann gab es noch das Schlafzimmer, in dem der Kleine nachts noch bis zum Alter von vier Jahren in einem Kinderbett, danach bis Kriegsende auf einer Couch zusammen mit seinen Eltern schlief. In der Erinnerung wird das unangenehme Gefühl lebendig, wenn allabendlich die Mutter dem Kind das „Häubchen“ um den Kopf band, mit einer Schleife unter dem Kinn, damit der Junge beim Auf-Der-Seite-Liegen nicht das Ohr umknicken konnte, was, das war die feste mütterliche Überzeugung, später zu abstehenden Ohren führen müsse.

Aber zurück zum Sofa im Herrenzimmer, auf dem der Kleine Mittagschlaf halten sollte. Das sommerliche Halbdunkel im Zimmer rührte von den auf Lücke nicht vollständig heruntergelassenen Rollläden her. Aber trotzdem leuchtete, lebte und bewegte es sich im Zimmer, was die Mutter beim Schließen der Tür hinter sich nicht bemerkt hatte. Und diese leuchtende Bewegung an der Zimmerdecke kam vom See. Die Mittagssonne traf auf kleine Kräuselwellen, die das Licht flirrend durch die Lücken in den Fensterläden auf die Zimmerdecke reflektierten. Von diesem Lichtspiel über ihm war der Kleine völlig hingerissen. Und weil Kinder diesen Alters ein mindestens doppelt so großes Fantasiepotential wie ältere Leute haben, war er bald von dieser naturhaften Kunstdarbietung überwältigt.

Es fing an, in ihm an auslegendem Erleben zu brodeln; an Schlaf war nicht mehr zu denken. Einmal sah er die Bewegungen der elektrischen Wäscherolle, die in einem Hofgebäude der Drogerie im Ort betrieben wurde und zu der er seine Mutter alle zwei Monate nach den Wäschetagen begleiten durfte („komm ja nicht mit den Fingern zu nahe an die Rollen, sonst sind sie ab“). Dann wieder blitzten die Walzen in den Mahlstühlen auf, die im großväterlichen Mühlenbetrieb im nahe gelegenen Rüdersdorf täglich 30 Tonnen Getreide zu Mehl vermahlten. All dieses fantastische Erleben weckte seine Kreativität. Mit 3 Jahren konnte er es natürlich nicht wissen: Ein wahrer Künstler muss komponieren, bildhauern, malen. Ja, malen musste er, ob er wollte, oder nicht. Er musste etwas schaffen, die Lichtspiele künstlerisch verarbeiten, die er an der Decke sah. Aber er hatte keine Malutensilien, keinen Stift, kein Papier.

Da, im höchsten Schaffensdrang, fiel sein Blick auf die Tapete an der Wand über dem Sofa (so etwa, wie der Blick von Alec Guinnes in dem Film „Des Pudels Kern“ auf die Giebelwände von Mietshäusern fiel, die ein innerer Zwang ihm befahl zu bemalen). Und, was war das? Die Mutter hatte die Butterdose auf dem runden Tisch vor dem Sofa vom Frühstück noch nicht abgeräumt! Nun hatte er beides, die zu gestaltende Fläche und die Farbe. Ein Pinsel war schnell gefunden, sein linker - er war Linkshänder - Zeigefinger. Nun entstand in kurzer Zeit das Wellenlichtspiel an der Zimmerdecke in der künstlerischen Verarbeitung des Kleinen in dicken Butterfettspuren an der Wand, die hier und da die waagerechten Linien des Tapetenmusters - mal in dezentem braun als durchgezogene Linie, mal in gepunktetem Gold ausgeführt - durchkreuzten. Nach und nach nahm das Werk Gestalt an, und eine wohlige Zufriedenheit erfasste die Seele des Jungen.

Tief versunken in die Betrachtung seines Werkes bemerkte er gar nicht, wie sich die Tür leise öffnete und die Mutter ihn liebevoll wecken wollte. Was dann geschah, führte dazu, das er im schulischen Kunstunterricht bis hin zum Abitur immer um ein „ausreichend“ zu ringen hatte, was in den Jahren dazwischen oftmals auf ein „mangelhaft“ abrutschte. Das malerische Talent war ein- für allemal verschüttet, und so wandte er sich später der Musik zu.

 

 

Leseprobe aus Kapitel 4 Taumel in die Endzeit“ (zum Abdruck duech die Presse freigegeben)

Günter Nicke: Was für Zeiten!

Books on Demand. Norderstedt 2007.

ISBN 978-3-8370-1112-8.

 

Bald war dieses Ereignis wieder in den Hintergrund getreten und die Kinder merkten wie bisher wenig vom Krieg. Für die großen Ferien hatten Richards Eltern den Plan, dass diesmal der Vater mit seinem Sohn allein nach Binz auf Rügen fahren sollte, während die Mutter eine ihrer zahlreichen Kuren - diesmal in Bad Kudowa - antreten wollte. Das Ganze war für die zweite Julihälfte 1944 geplant.

So brachen die beiden an einem frühen Morgen auf, um erst mit dem Bus nach Erkner und von dort mit der S-Bahn bei einmaligem Umsteigen in Friedrichstraße zum Stettiner Bahnhof zu gelangen, der damals der Berliner Kopfbahnhof für alle nach Norden fahrenden Fernzüge war. Die damals roten Omnibusse wurden zumeist von der Reichspost betrieben, deren Farbe ebenfalls rot war, wie zum Beispiel auch alle Briefkästen. An den Bussen hingen oftmals Personenanhänger, die wie bei LKWs eine Deichsel hatten. Das Elektrokabel, das den Anhänger mit der Batterie des Triebwagens verband, hing lose in einiger Höhe über der Deichsel und schaukelte munter im Fahrtwind hin und her.

Richards Mutter hatte dieser Umstand immer sehr ängstlich gemacht, denn sie war zu seiner inneren Erheiterung davon ausgegangen, dass die Busanhänger nur an dem Elektrokabel hingen und auch von diesem gezogen wurden. Die stabile Deichsel hatte sie einfach übersehen. „Wie dumm doch Frauen sein können!“, prägte sich ihm ein.

Vater und Sohn kamen eine Stunde vor Zugabfahrt auf dem Stettiner Bahnhof an. Damals musste man immer eine Stunde vor Abfahrt von Fernzügen auf dem Bahnhof sein, weil bei Fliegeralarm die Züge oft früher den Bahnhof verließen, um dem Bombardement der Städte zu entgehen. So auch dieses Mal: Eine Viertelstunde vor Abfahrt gab es Fliegeralarm, und der Zug fuhr sofort los in Richtung Stralsund mit Endstation Bergen/Rügen. So um die Mittagszeit stoppte er auf freier Strecke. Alle mussten aussteigen. Und dann sah man, dass vor dem Zug der Gleiskörper so zerbombt war, dass manche Schienenstücke verbogen und fast senkrecht nach oben zeigten. Man musste eine steile Bahnböschung hinauf klettern.

Oben warteten viele Omnibusse, die man bestieg und die die Reisenden nach Stralsund brachten. Da stand wieder ein Zug bereit, der nach Bergen fuhr. Dann wieder umsteigen nach Puttbus und dort in die Inselkleinbahn, den „Rasenden Roland“, der die Strecke Puttbus - Binz - Sellin - Babe - Göhren befuhr. Spät abends kamen die Beiden in Binz an und stiegen in dem vorgebuchten, direkt am Strand gelegenen „Palasthotel“ ab.

Der sich anschließende Ferienaufenthalt hatte weiter nichts Berichtenswertes, bis auf einen Tag. Sein Vater und Richard saßen bei Tisch, als durch das Hotelradio die Meldung kam, dass auf den Führer ein Attentat verübt worden sei. Just in dem Augenblick ging der Inhaber des Palasthotels, ein Herr Stamer, an ihrem Tisch vorbei und murmelte die Worte „Gott sei Dank“ vor sich hin. Im gleichen Augenblick bemerkte er, dass Richards Vater diese Worte verstanden hatte. Er bekam einen roten Kopf, fing an zu stottern, als er dem Vater klarmachen wollte, dass sich sein „Gott sei Dank“ beileibe nicht auf die Radio-Meldung bezogen hätte, sondern er dabei etwas völlig anderes im Sinn hatte.

Der Vater, der schon vorher auf ein persönlicheres Verhältnis zu Herrn Stamer bedacht war, schlug ihm darauf hin vor, für seinen Sohn einen Erdbeereisbecher bringen zu lassen, mit dem er ihn auf das Zimmer schicken wolle. Alsdann solle er mit einer guten Flasche Wein zu ihm an den Tisch zurückkommen, die sie dann gemeinsam auf das „Wohl“ des Führerattentäters leeren wollten. Erst Jahre später erfuhr Richard, dass die beiden Männer ihre Flasche Wein nur zur Hälfte hatten genießen können, denn als sie halb leer war, kam eine weitere Radio-Meldung: „Der Führer lebt“. Es war der 20. Juli 1944.

Am nächsten Morgen wurde auf den an der Brücke und auf Reede liegenden Kriegsschiffen der Ostseeflotte von den Soldaten-Matrosen nicht mehr mit der rechten Hand an der Stirn gegrüßt, sondern mit ausgestrecktem rechten Arm. Ein entsprechender Befehl muss wohl noch in der Nacht ergangen sein.

Die Eltern hatten mit Richard schon einmal 1941 in Binz Ferien gemacht. Damals war der Krieg eine ferne, im zivilen Leben kaum spürbare Angelegenheit gewesen. Kinder wussten eigentlich gar nichts davon. Man war im Hotel „Strandcafé“ abgestiegen und hatte einen Strandkorb auf einem direkt vor dem Hotel liegenden Strandabschnitt gemietet.

Damals - aber auch noch jetzt 1944 - war es eine übliche und teils sehr ernst genommene Sache, um den Strandkorb herum einen Sandwall aufzurichten, der sich ‚Burg’ nannte. Oftmals wurden diese Burgen verziert oder besonders geformt, zum Teil richtigen Kunstwerken gleich. Es wurden von der Kurverwaltung regelmäßig Wettbewerbe ausgeschrieben, in welchen die schönste Burg prämiert wurde. Wehe dem, vor allem dem Kind, das es wagte, durch unachtsames Setzen seiner Schritte solche Burg zu beschädigen. Das ging manchmal über das reine Ausschimpfen hinaus bis zur Beschwerdeführung bei den Eltern.

Der Nachbarstrandkorb und seine Nutzer waren aber toleranter, denn sie hatten selbst eine Tochter in Richards Alter. Sie hieß Evelyn, und man freundete sich für die Zeit des gemeinsamen Aufenthaltes an. Richard und Evelyn wurden ein unzertrennliches Paar, machten alles gemeinsam. Früh krümmte sich hier, was ein Häkchen werden wollte. Einmal war den beiden nach Eis zumute. Das beste gab es im Strandcafé.

Man entschied sich, barfuß langsam und vorsichtig, erst durch den heißen Sand, dann über die ausgelegten Holzroste, hinweg über die gepflasterte Uferpromenade, ins Hotel zu gehen. Da war eine Drehtür, deren Abschluss zum Boden hin eine Borstenleiste hatte. Als sie ihr Eis in der Hand hielten und wieder durch die Drehtür hinaus wollten, bewegte ein Erwachsener die Drehtür heftig - er war wohl in Eile - so dass die Borsten über Richards großen Zeh rückwärts hinwegfuhren, dabei den Zehnagel umklappten und fast ausrissen.

Richard schrie erst wie am Spieß, das Blut spritzte förmlich heraus. Das herbeigestürzte Personal sah aber zuerst die Verunreinigung des Bodens durch das Blut und nicht den Schmerz des Jungen. Evelyn nahm ihn bei der Hand und führte ihn schluchzend zurück zu seinen Eltern, während sich im Sand eine Spur aus dem Gemisch von Blut und herabtropfendem Speiseeis bildete. Natürlich hatte die Angelegenheit das Nachspiel einer mütterlichen Beschwerde bei der Hotelleitung. Aber: Bei Kindern heilt alles schneller, und bald war die Sache vergessen.

Das damals Erlebte war ihm durch den Sinn gegangen, als einige Tage nach dem Hitler-Attentat Richard und sein Vater wieder heimfuhren. Bis auf einen MG-Beschuss aus der Luft auf den „Rasenden Roland“ verlief die Rückreise reibungslos.

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